Integrativer Tourismus – Lebensraumkonzept
Weg vom Alleingang: Die Einheimischen sind wichtig für den Tourismus und nichts sollte „an ihnen vorbei“ gehen: (Verbesserungs-)Konzepte können gemeinsam erarbeitet werden, Herausforderungen nur mit gemeinsamem Fokus gemeistert werden. Das Denken über den Tellerrand hinaus öffnet den Blick für mehr als „das Touristische“.
Die Erarbeitung von touristischen Entwicklungskonzepten hat auf Destinationsebene mittlerweile eine lange Tradition.
Viele Destinationen haben mit Unterstützung von externen Beratern Leitlinien für die eigene touristische Entwicklung festgelegt. Die Methoden haben sich dabei im Laufe der Jahre merklich verändert. Waren es zu Beginn reine Expertenpapiere, werden diese Konzepte heute mit Beteiligung von Arbeitsgruppen bis hin zu moderierten Grossgruppenklausuren erarbeitet. Unabhängig von der Methode bleibt festzuhalten, dass die grösste Herausforderung touristischer Entwicklungskonzepte nach wie vor in deren Umsetzung liegt.
Das Hauptthema dieser Konzepte ist immer die Entwicklung des Tourismus – sie heissen ja schliesslich auch Tourismusentwicklungskonzepte. Warum aber lassen sich diese Konzepte so schwer realisieren? Ist vielleicht gerade der rein touristische Fokus ein wesentlicher Schwachpunkt? Greift dieser Fokus womöglich zu kurz und sollte grundsätzlich überdacht werden?
Das Lebensraumkonzept
Kohl & Partner beschäftigt sich mit diesen Fragen bereits seit vielen Jahren und hat als mögliche Antwort das sogenannte „Lebensraumkonzept“ initiiert. Der Ansatz des Lebensraumkonzeptes weitet den rein touristischen Fokus aus: weg von dem, was „nur“ den Gästen gut tut, hin zu ganzheitlichen Überlegungen, in denen die Einheimischen einer Destination mit im Mittelpunkt stehen. Hinter dieser Überlegung steckt die Annahme, dass alles, was uns Einheimischen gut tut, fast immer auch für unsere Gäste gut ist. Mit anderen Worten: die Erhöhung der Lebensqualität für die Einheimischen führt meist auch zu einer Erhöhung der Urlaubsqualität der Gäste. Eine typische Win-Win-Situation wird erreicht. Tourismus, wie er bei uns stattfindet, passiert integrativ, d. h. der Lebensraum von uns Einheimischen ist gleichzeitig Urlaubsraum für die Gäste. Die beiden „Räume“ befruchten sich demnach gegenseitig, beispielsweise wenn das Ortsbild – primär für die Einheimischen, aber eben auch für die Gäste – verschönert wird. Natürlich gibt es auch kritische Situationen wie beispielsweise, wenn der Lebensraum zu gewissen Zeiten aufgrund großer Gästemengen fast „nur“ noch Urlaubsraum ist oder wenn ein Gast in seiner „entschleunigten“ Urlaubsstimmung den Verkehr aufhält, wir Einheimische es aber aus Termingründen eilig haben. (Hinweis: Denken Sie einmal daran, wie Sie selbst im Urlaub Auto fahren – da stört Sie wahrscheinlich auch, wenn hinter Ihnen jemand hupt und Sie mit eindeutigen Gesten in ein anderes Land schickt!) Es ist also naheliegend, die Entwicklungsüberlegungen nicht als rein touristische Entwicklungen zu definieren, sondern vielmehr als Entwicklung unseres Lebensraums, also als etwas sehr „Persönliches“ von uns Einheimischen.
Einige Reflexionen zum Thema „Lebensraum“
Lebensraum umfasst nicht nur alle Wirtschaftsbereiche (Handel, Handwerk, Landwirtschaft und Tourismus), sondern auch Überlegungen zur Energie- und Wasserversorgung, eine anspruchsvolle Architektur, ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Alltagskultur etc. Eine nachhaltige Entwicklung im Sinne des Lebensraums umfasst das ökonomische, sozial-gesellschaftliche und ökologische Handlungsfeld (siehe obige Grafik). Lebensraum hat viel mit Lebensqualität zu tun. Hans Magnus Enzensberger (deutscher Dichter, Schriftsteller) definiert Lebensqualität mit folgenden Begriffen:
- Sinn- und Selbstfindung
- Aufmerksamkeit
- Einfachheit
- Zeit
- Ruhe und Umwelt
- Raum
- Spass, Erotik und Sinnlichkeit
Die Thesen zur Lebensqualität
Aus all diesen Überlegungen haben wir von Kohl & Partner Thesen zur Lebensqualität abgeleitet, die als Basis der Kohl & Partner-Lebensraumkonzepte dienen. Nachfolgend ein kurzer Auszug:
- Lebensraum/Lebensqualität ist nur individuell messbar und deshalb mit Zahlen kaum belegbar! In anderen Worten: Wir können Lebensqualität „spüren“, aber nicht bzw. kaum mit Zahlen messen (und sollten es auch nicht tun)!
- Lebensqualität kann nur vermitteln/verkaufen, wer selbst Lebensqualität hat!
- Lebensqualität braucht Eigenverantwortung und setzt auf „Gutes tun“: sich selbst, der Familie, den Freunden, den Nachbarn, den Gästen etc.
- Lebensqualität setzt auf Werte, die uns wichtig sind! Werte muss man haben, verkörpern und leben!
Vorgehensweise bei der Erarbeitung von Lebensraumkonzepten bzw. Lebensraumprozessen?
Eigentlich ist es kein Konzept, das erarbeitet wird, sondern ein Prozess, der begleitet wird. Ein wesentlicher Unterschied zu „klassischen Tourismusentwicklungskonzepten“ ist die Anzahl der involvierten Akteure, die bei den Zukunftsklausuren auf über 100 Personen ausgeweitet werden. Dementsprechend ist dann auch die Breitenwirkung in der Gemeinde. Die Vorbereitungsarbeiten und eine erste Analyse werden mit einer Arbeitsgruppe erarbeitet, in der VertreterInnen aus allen Bereichen der Gemeinde (wirtschaftlich, politisch, sozial und kulturell) vertreten sind. Das „Herzstück“ des Entwicklungsprozesses sind – wie gesagt – zwei bis drei ca. halbtägige Grossgruppen-Klausuren (mit 100 bis 200 Personen), in denen die verschiedenen Interessensgruppen (Tourismus, Landwirtschaft, Handel, Handwerk, Gemeinde, Jugend, Senioren, Soziales, Vereine, „Nur-Einwohner“ etc.) als eigene Gruppen, die Vorarbeiten kritisch hinterfragen, die gegenseitigen Wünsche auflisten und die zukünftigen Leitlinien für sich selbst und für die Gemeinde/die Destination festlegen. Hierbei werden neben den üblichen Fragestellungen nach den Stärken und Schwächen, den Kernkompetenzen auch Fragen bearbeitet wie z. B.: Wie und wo wird Alltagskultur gelebt und erlebt? Welches sind die Werte, auf die wir setzen sollten? Wo finden Begegnungen zwischen Einheimischen, zwischen Einheimischen und Gästen, zwischen Gästen statt? Was macht unseren Lebensraum eigentlich aus?
Die im Anschluss abgeleiteten Schlüsselprojekte betreffen folglich nicht nur den Tourismus, sondern beinhalten auch Massnahmen, die den Ort in seiner Gesamtentwicklung weiterbringen sollen. Nachfolgend einige beispielhafte Massnahmen und Projekte, die im Rahmen eines solchen Prozesses erarbeitet und umgesetzt wurden:
- Zusammenschluss aller ortsansässigen Vereine unter einem Dachverein: einerseits um enger „zusammenzurücken“ und Aktivitäten besser abzustimmen, andererseits um die Lobbyarbeit für die Vereine zu stärken
- Jugendstammtisch und Sensibilisierung der einheimischen Jugend für ein schöneres Dorfbild
- Definition von Kernkompetenzen und der Profilierung für die Tourismusentwicklung
- Verkehrsberuhigungsmassnahmen
Im Anschluss an die Konzeptentwicklung wird der Fortschritt der einzelnen Projekte in jährlich stattfindenden Evaluierungssitzungen der gesamten Bevölkerung präsentiert und mit dieser kritisch reflektiert – und hier greift wieder der positive Ansatz in der Umsetzung: Keiner will vor den eigenen Mitbürgern eine „blöde Figur“ abgeben, sondern etwas präsentieren, das Sinn stiftet!
Fazit
Lebensraumkonzepte sind kein Allheilmittel! Mit dem „Drehen“ der Sichtweise – weg vom touristischen Fokus hin zur Lebensqualität der Einheimischen (die wie bereits gesagt auch die Ferienqualität der Gäste umfasst) – wurde ein Zugang gefunden, der die Betroffenen – sprich die Einheimischen – mehr involviert und vor allem auch emotional anspricht. Es geht ja schliesslich um nichts Geringeres als den eigenen Lebensraum!